Warum ich mich für die Kindergedenkstätte eingesetzt habe
Hannelore Braun

Am Samstag vor Muttertag, den 13. Mai 2006, veranstaltete die „Initiativgruppe Kindergedenkstätte“, in der ich aktiv mitgewirkt habe, eine Gedenkfeier. Bevor sie begann, legte ich für meinen verstorbenen Sohn Norbert einen mit seinem Namen beschrifteten Kieselstein auf einem Gedenkstein in einem der Gedenksteinkreise ab. Die Feier war für mich der Anstoß, nach den langen Vorbereitungen zur Realisierung der Gedenkstätte, endlich mein ganz persönliches Anliegen umzusetzen.

Die Natur zeigte sich an diesem Nachmittag von ihrer schönsten Seite. Ringsherum blühte und grünte es. Zu einer Jahreszeit, in der die Trauer scheinbar keinen Platz hat, weil das Leben überall neu beginnt, gedachten wir bewusst unserer verstorbenen Kinder. Der Nachwuchschor des Mädchenchor Hannovers sang Lieder u.a. von Mozart und Ligeti, und die Musik berührte uns alle sehr. Als Gabriele Oest, Seelsorgerin in der Henriettenstiftung, nach der Andacht das gemeinsame Trauerritual erklärte - weiße Luftballons sollten in den Himmel steigen - gab es einen lauten Knall. Einer der Ballons war geplatzt. Das ist ein Zeichen von Norberts Gegenwart, schoss es mir in den Sinn. Mein lebensfroher, temperamentvoller Sohn Norbert verstarb im Juli 1984 mit 15 ½ Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Die Luftballons stiegen in den blauen Frühlingshimmel, flogen über die rotblühende Kastanie hinweg, weiter und immer weiter, bis nur noch als winzige weiße Lichtpunkte zu erkennen waren. Unsere Gedanken und Gefühle begleiteten sie. Es waren bewegende und schöne Momente. Alle Zweifel, ob diese Form des Trauerrituals angemessen ist, waren dahin. Das Loslassen der Ballons, das Verfolgen ihrer Flugbahn, ihr langsames Verschwinden in der Weite des Himmels, war wie ein Symbol für den Verlauf meiner Trauer.

Ein paar Tage später begann ich in der Werkstatt der Steinbildhauers Uwe Spiekermann zunächst an einem Klumpen Ton mit der Arbeit an dem Gedenkstein für Norbert. Dieser Gedenkstein, das Wissen, dass Norbert seinen Platz inmitten anderer Kinder auf der Kindergedenkstätte bekommt, einen Platz, der bleibt, war stets der wichtigste Motor für mein Engagement am Entstehen der Gedenkstätte.
Wer, wie ich damit bereits konfrontiert war oder ist, das die Liegezeit für sein verstorbenes Kind auf dem Friedhof abläuft, wird mich vielleicht noch besser verstehen. Mir ist es wichtig, dass Norbert seinen Platz hier auf Erden behält, auch wenn es sein Grab vielleicht nicht mehr gibt.
Als Norbert starb, suchten wir für ihn einen speziellen Marmorstein aus. An eine eigene Gestaltung des Grabmals war damals kein Gedanke. Inzwischen weiß ich, wie wichtig die eigene Arbeit an einem Stein für das verstorbenen Kind sein kann.

Norbert war ein lebhafter Junge. Das zeigt sich auch in seiner schwungvollen Unterschrift, die er überall - auch auf den Seiten eines Kochbuchs - übte. Dieser eigene Namenszug sollte seinen Stein schmücken. Die Idee dazu trug ich schon seit langer Zeit mit mir herum. Als ich schließlich seine Unterschrift aus meinem alten Kochbuch auf ein Blatt Papier übertrug, indem ich sie auf Transparentapier kopierte und dabei jeden Buchstaben nachfuhr, entstand große Nähe zu meinem Sohn, die starke Sehnsucht nach ihm wachrief. Die Formgebung, der Rahmen für Norberts persönliche Unterschrift, entstand im Gespräch mit dem erfahrenen Steinbildhauer Uwe Spiekermann. Er gab mir wichtige Anregungen, die ich zunächst versuchte, im Tonmodell umzusetzen. Ich vertiefte auf der Oberfläche eine breite, schwungvolle Spur, ähnlich einem Flussbett mit einem Steilufer und einem gegenüberliegende flachen Ufer - Norberts Lebensspur, die so jäh abbrach. Inzwischen habe ich schon einige Stunden den Gedenkstein, einen Thüster Sandsteinquader bearbeitet. Durch Hämmern, Klopfen und Meißeln entstand unter meinen Händen ein deutlicher Flussverlauf. Die Arbeit ist ungewohnt und staubig. Sie macht mir unerwartet große Freude! Sie lässt mich von vielen Allagssorgen abschalten. Ich konzentriere mich und bin zufrieden mit dem Fortschritt. Es ist sicher ein besonderer Tag für mich, wenn der Gedenkstein in einem der Kreise fest eingelassen wird.

 

Hannelore Braun, protokolliert von Susanne Lindau im Juni 2006

 

 

Fotos von Dr. Susanne Lindau